Die Gefängnisinsel Rikers ist seit langem berüchtigt wegen der brutalen Verhältnisse, die dort herrschen. Die Schliessung wurde schon vor Jahren angekündigt.
David Signer, Chicago
5 min
Seit Jahren sorgt das riesige New Yorker Gefängnis Rikers für Schlagzeilen, die Zustände dort sind katastrophal. Gangs beherrschen ganze Trakte, es zirkulieren haufenweise hineingeschmuggelte Waffen und Drogen unter den Häftlingen, immer wieder kommt es zu Todesfällen und Suiziden, die Infrastruktur ist marode, die medizinische Versorgung mangelhaft, die Zellen sind überbelegt und die Aufseher berüchtigt für ihre Brutalität.
Die meisten Insassen sind nicht einmal verurteilt
Letztes Jahr kam es zu 500 Messerstechereien. 5000 Waffen wurden konfisziert, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr, und trotzdem nehmen die gewalttätigen Zusammenstösse zu. 38 Häftlinge kamen in den letzten drei Jahren im Gefängniskomplex ums Leben. Offenbar wird auch die Einzelhaft immer wieder willkürlich als Strafe eingesetzt. Die Stadt New York musste im April 53 Millionen Dollar bezahlen, um eine Klage von Tausenden von Untersuchungshäftlingen beizulegen, die gesetzeswidrig isoliert worden waren.
Rikers ist eines der grössten Gefängnisse der Welt. Über 6000 Häftlinge sitzen gegenwärtig dort ein – früher waren es bis zu 17000. 85 Prozent von ihnen warten – manchmal jahrelang – auf ein Verfahren; das heisst, sie gelten eigentlich noch als unschuldig. Im Gefängnis werden sie jedoch wie Schwerverbrecher behandelt. Die meisten von ihnen sind Afroamerikaner und Latinos. Es fehlt ihnen das Geld für eine Kaution. Insgesamt sitzen in den USA 2,1 Millionen Menschen im Gefängnis. Das sind pro Kopf weit mehr als in allen anderen westlichen Industrienationen. Präsident Joe Biden kündigte schon kurz nach seinem Amtsantritt an, die «Masseninhaftierung zu reduzieren» – bis jetzt ohne grossen Erfolg.
Rikers existiert seit 1932. Es liegt auf einer Insel im East River zwischen den Stadtteilen Bronx und Queens, ganz in der Nähe des La-Guardia-Flughafens, und ist durch eine Brücke mit dem Festland verbunden. Journalisten haben keinen Zugang. Offiziell nennt sich das Gefängnis «Correctional Facility», und die Wächter heissen «Correction Officers», aber wie es im Buch «Rikers» von Graham Rayman und Reuven Blau heisst, sind die meisten Häftlinge beim Austritt schlechtere Menschen als beim Eintritt. Wegen der allgegenwärtigen Bedrohung schläft jeder mit einem geschliffenen Gegenstand unter der Matratze.
Schliessung schon seit Jahren angekündigt
Vor allem während der Pandemie verschlechterten sich die Zustände in Rikers nochmals. Zeitweise war ein Drittel der 7500 Beamten dauerhaft krankgeschrieben – bei vollem Lohn. Diejenigen, die noch zur Arbeit erschienen, mussten zum Teil 24-Stunden-Schichten schieben – und meldeten sich natürlich so rasch als möglich ebenfalls krank. Die Gewerkschaft verhinderte, dass vorübergehend Externe eingestellt werden konnten, und die Aufseher verloren die Kontrolle über ganze Teile des Gefängnisses. Wie in einem Krieg zogen sie sich mehr und mehr zurück.
Schon 2017 hatte der damalige Bürgermeister von New York, Bill de Blasio, angekündigt, Rikers werde spätestens 2027 geschlossen. Es sollten auf dem Festland neue Gefängnisse für 3300 Häftlinge gebaut werden. Man ging davon aus, dass die Zahl der Inhaftierten sinken würde, weil man die Strafen für kleine Vergehen senken wollte. Stattdessen nahm im Laufe der Pandemie die Zahl der Insassen zu, wegen des Anstiegs der Zahl der Verbrechen, aber auch weil die Gerichte wegen der Personalausfälle mit der Aufarbeitung noch mehr ins Hintertreffen gerieten. Gleichzeitig wehrte sich die New Yorker Bevölkerung gegen Gefängnisneubauten. Im letzten Sommer drohte Washington mit der Zwangsverwaltung des Gefängnisses durch Bundesbehörden.
Vertuschung von Brutalität und Todesfällen
Eric Adams, seit Januar 2022 Bürgermeister von New York, signalisiert inzwischen, dass Rikers wohl nicht termingerecht geschlossen werden könne. Er ernannte letztes Jahr seinen alten Weggefährten Louis Molina zum Chef der städtischen Gefängnisse und versprach radikale Reformen, um dem Wechsel zur Verwaltung unter bundesstaatlicher Kontrolle zuvorzukommen. Aber verbessert hat sich kaum etwas.
Im Gegenteil. Steve J.Martin von der bundesstaatlichen Aufsichtsbehörde kritisiert Molina scharf. In einem vernichtenden Bericht von Anfang Juni wirft er ihm mangelnde Kooperation und Transparenz vor, konkret: Er unterschlage Informationen und verweigere der Aufsichtsbehörde den Zugang zu Videos der Überwachungskameras. So glaubt er Molina schlichtweg nicht, dass dieses Jahr angeblich erst drei Personen in Rikers ums Leben gekommen seien.
Der Bericht beschreibt beispielsweise, wie die Wächter einen über 80-jährigen Insassen misshandeln oder wie ein Häftling, der von Mitinsassen verprügelt worden war, stundenlang nackt auf dem Boden seiner Zelle lag, ohne Hilfe zu bekommen. Im Mai warfen Wächter einen Gefangenen so brutal zu Boden, dass er seither vom Hals abwärts gelähmt ist.
Ein früherer Fall betraf einen Gefangenen, der an den Folgen eines epileptischen Anfalls starb. Obwohl die Wächter mehrmals an die Zellentüre klopften und keine Antwort erhielten, kontrollierten sie nicht, was mit ihm los war. Als sie ihn endlich am Boden liegend fanden, lachten sie bloss über ihn, anstatt ihm die lebensnotwendigen Medikamente zu geben.
Die heftigen Vorwürfe werfen auch ein schlechtes Licht auf den Bürgermeister Adams, einen ehemaligen Polizisten, der Rikers bei seinem Amtsantritt als «nationale Schande» bezeichnet hatte.
Bundesstaatliche Zwangsverwaltung droht
Am vergangenen Dienstag nun lud Laura T.Swain vom Bundesbezirksgericht Manhattan Molina zu einer Anhörung vor. Sie sagte, die jüngsten Berichte von Martin stellten die Fähigkeit New Yorks, das Leben der Insassen und des Personals in Rikers zu schützen, ernsthaft infrage. Sie rügte Molina auch scharf wegen seiner Versuche, Todesfälle und exzessive Gewaltanwendung von Wächtern im Gefängnis zu vertuschen. Molina wiederholte, was schon Adams bei früherer Gelegenheit als Begründung vorgebracht hatte: dass sie die Vorfälle nicht publik gemacht hätten, weil sie nicht repräsentativ seien, ein ungerechtfertigt schlechtes Licht auf das Gefängnispersonal werfen und eine falsche Botschaft aussenden würden. Swain kritisierte diese Rechtfertigungen. Bisher hatte sich die Richterin immer vehement gegen eine Zwangsverwaltung von Rikers gestellt; ihre jüngsten Äusserungen signalisieren nun eine Kehrtwende.
Passend zum Artikel
David Signer (Text), Katja Müller (Bilder), Chicago
15 min
Nicole Anliker, Rio de Janeiro, Marie-Astrid Langer, San Francisco, Christian Weisflog, Beirut
George Szpiro, New York
Viola Schenz